Zeichen der Macht und Macht der Zeichen
Politik und Kunst sind zwei die Geschichte der Menschheit prägende Gestaltungsformen, die ebenso viel miteinander verbindet wie voneinander unterscheidet. Beide entfalten sich als Lebensäußerungen und Gestaltungsansprüche von Menschen, beide beziehen sich auf die Gesellschaft und setzen sich mit ihr auseinander, ihrem aktuellen Zustand wie ihren Möglichkeiten und Entwicklungsperspektiven. Dabei folgen sie aber einer jeweils grundverschiedenen Logik: Das Medium der Politik ist die Macht, das Medium der Kunst ist die Form. Auch wenn beide damit nicht hinreichend beschrieben sind, ist offensichtlich, dass politische Prozesse mit ästhetischen Maßstäben nicht zu messen sind,
die wiederum für jedes Kunstwerk konstitutiv sind.
Die Behauptung, jede Kunst sei politisch, ist ebenso beliebig wie die gegenteilige Vermutung, sie genüge sich selbst, „l’art pour l’art“. Zweifellos gibt es Kunstwerke, die im Wortsinn politisch motiviert sind, und künstlerische Positionen, die dezidiert politische Inhalte transportieren. Sie finden sich insbesondere in der Literatur und im Theater, aber auch in der Musik und selbstverständlich auch und nicht zuletzt in der bildenden Kunst. Beispiele dafür finden wir weltweit in den öffentlichen Museen wie in Regierungsgebäuden, Staatskanzleien und Ministerien, zunehmend auch in Parlamenten – nicht selten als abschreckende Beispiele für die Instrumentalisierung der Kunst für politische Zwecke in Gestalt von dröhnender Propaganda, subtiler Persiflage, ideologischer Überhöhung, gezielter Diskriminierung oder demonstrativer Erniedrigung.
Der Bilderzyklus Head Lines von Joseph Carlson gehört zweifellos in die Kategorie politischer Kunst und unterscheidet sich offensichtlich von den genannten Verirrungen. Joseph Carlson veranschaulicht weder konkrete Ereignisse noch abstrakte Ideen. Er setzt sich – wie viele Künstler – mit Köpfen auseinander, die politisch Bedeutung haben oder hatten, aber nicht in der vertrauten Form von Herrscherporträts in mehr oder weniger wirklichkeits-naher Gestalt, sondern von Zeichen, die ebenso stilisiert wie authentisch sind: Unterschriften. Sein Stoff sind die Signaturen der Machthaber, der Entscheidungsträger, die mit ihrem Willen zugleich Staatsakte setzen und gesellschaftliche Entwicklungen befördern oder behindern.
Kunst handelt von Wahrnehmungen, Politik von Entscheidungen. Die Signaturen der Mächtigen sind nicht unbedingt mächtige Zeichen, ihre Wirkungsmacht ergibt sich nicht aus sich selbst, sondern aus ihrer Akzeptanz als gültige, beglaubigte Willensakte. Politische Entscheidungen drücken sich aus in kollektiven wie in individuellen Voten, in Gesetzen, Kommandos oder Befehlen. Ihr Anspruch auf Geltung manifestiert sich von der Antike bis in die digitale Neuzeit in der Regel durch einen sichtbaren Beleg: die Unterschrift.
Genau hier, bei der Dimension des Sichtbaren, setzt Joseph Carlson an. Er stützt sich allein auf das Visuelle, die konstante, vom jeweiligen Anlass, dem Kontext und der Tragweite unabhängige Sichtbarkeit. Die Head Lines sind nicht das, was sie scheinen; sie wirken auf den ersten Blick wie eine zeitgenössische Form der Kalligraphie und sind genau das nicht: Schönschrift. Für die Wirkung eines Schriftzeichens ist seine (schöne) Form völlig unerheblich, für die Schönheit einer künstlerischen Handschrift ist deren (politische) Wirkung geradezu irrelevant. Die Head Lines von Joseph Carlson haben ein starkes kalligraphisches Moment, sie bleiben abstinent gegenüber jeder auch nur angedeuteten Ausmalung von Anlass, Folgen und Auswirkungen. Sie zeigen nur das, was an diesen Signaturen sichtbar ist: ihre Handschrift, ihren Duktus, ihren Rhythmus. Durch Hervorhebung eines willkürlich, nicht politisch, sondern ästhetisch gewählten Ausschnitts reduziert Carlson die Unterschrift auf das reine Zeichen. Das Bild wird auf diese Weise unschuldiger als der Gegenstand. Die Head Lines sind weder Unterschriften noch Überschriften, sondern scheinbar harmlose Zeichen mächtiger Köpfe.
Unserer Fantasie ist bei der Betrachtung der Bilder keine Grenze gesetzt. Die Assoziationen sind ohne Kenntnis des Gegenstandes völlig anders als mit dem Wissen um die jeweilige Person und die Wahrnehmung ihrer Unterschriften als machtvolle Versionen unter vielen Tausend anderer Schriftzeichen. Wir wissen, was durch Unterschriften geschieht, was angeordnet oder veranlasst, verboten oder erlaubt werden kann, was erreicht oder versäumt oder vertagt wird, was geschaffen oder zerstört werden kann. In Signaturen spiegelt sich die Macht Einzelner. Sind Unterschriften deshalb meistens unleserlich? Kann man sich hinter der eigenen Unterschrift verstecken? Wirken handschriftliche Namenszüge zufällig rätselhaft, magisch, genialisch, wirr?
Wem gehört welche Unterschrift? Mit welchem Kopf verbindet sich welches Zeichen? Es ist eine ernüchternde Erfahrung, dass sich aus Signaturen nicht erkennen lässt, ob sie von Autokraten, Demokraten oder Despoten stammen. Joseph Carlsons Head Lines sind Kunstwerke, keine Dokumente. Man könnte sie als rein ästhetische Projektionen wahrnehmen und sie sind mit Blick auf konkrete Machthaber vielleicht auch nur so zu ertragen. Wir suchen in den Zeichen nach Merkmalen, die uns das Wesen der Unterzeichner offenbaren könnten, aber wir finden sie nicht. Der Betrachter ist fasziniert und erschrocken zugleich, fast wie der babylonische König Belsazar auf dem berühmten Gemälde von Rembrandt oder in Heinrich Heines Ballade: „Und sieh! Und sieh! An weißer Wand / da kam’s hervor wie Menschenhand… / Die Magier kamen, doch keiner verstand / zu deuten die Flammenschrift an der Wand.“
Das Bild ist nicht die Botschaft: Sie entsteht erst im Kopf des Betrachters, der die Zeichen der Macht zu erkennen und die Macht der Zeichen zu deuten vermag.
Das hat Folgen für beide Arten der Darstellung. Einerseits kippt die Fotografie in ihrem Zentrum aus dem Genre des Fotografischen in das des abstrakten Bildes. Dem Foto scheint ein Stück Grafik eingeschrieben, ohne dass der Künstler die Fotografie verändert oder manipuliert. Nichts ist „eingeklinkt”. Alles ist schon da. Andererseits bekommt die isoliert dargestellte Form eine Dimension, die das rein grafische Genre an sich nicht besitzt. Das Wissen um die Entstehung der Form beeinflusst die Wahrnehmung. So erweist sich die Vielfalt abstrakter Formen in Wahrheit als die Vielfalt Pariser Innenhöfe und als Vielfalt des Lebens. Die Form bekommt eine Geschichte. Sie gewinnt eine epische Dimension. Ein Wesensaustausch gleich einem Temperaturaustausch findet statt: In der Fotografie wird die Form ein Stück abstrakter, in der Grafik ein Stück konkreter. In beidem, in der Fotografie und in der Grafik sehen wir mehr, als vorhanden ist.
So gibt Joseph Carlson seinem Werk in der zweifachen Serie von Bildwerken einen Sinn und eine Aussage.
Norbert Lammert