Head Lines sind Linien, die von politischen Köpfen geformt werden. Signaturen der Mächtigen, die unsere Welt bestimmen. Sie sind der Stoff für die Bilder, die auf völlig eigenständige Art Politik zum Sprechen bringen. Bilder, die verbunden sind durch ihren formalen Charakter, durch eine intensive Farbigkeit, durch eine spannungsreiche Linienstruktur und durch ein bewegtes Bildgeschehen. Sie sind ebenso verbunden durch ihren Inhalt. Denn so abstrakt die Bilder erscheinen mögen, so konkret und so realistisch sind sie in ihrer Substanz. Schriftelemente deuten sich an. Handschriftliches. So einzigartig, wie es nur Namenszüge sein können. Damit öffnet sich die inhaltliche Dimension dieser Bilder.
Sie zeigen Ausschnitte und Einzelformen konkreter Signaturen. Es sind Signaturen, die unsere Gegenwart bewegen. Dahinter stehen Köpfe, die für unsere Generation die Welt, das Leben und auch die Headlines bestimmen – von Trump bis Merkel, von Victor Orbán bis Xi Jinping. Weltbekannte Köpfe, die wir gut zu kennen glauben. Doch in dieser Weise haben wir sie noch nie gesehen. Wir kennen ihre Gesichter. Doch hier sehen wir ihr Tun, ihr Entscheiden, ihr Gestalten, ihr Bekräftigen. Es zeigt sich Bewegung – dort, wo Wichtiges bewegt wird. Die Bilder offenbaren nicht die vollständigen Namenszüge. Nicht auf das Faktum, sondern auf das Momentum kommt es an. Auf den Charakter, den Duktus der Bewegung. Das Lebendige. Das Persönliche und Individuelle. Köpfe erzeugen Linien. Head Lines. Das, was ganz oben steht und ganz oben geschieht.
Hinter der Ebene des Sujets, für das der Begriff Head Lines steht, sehen wir eine weitere Ebene der bildschöpferischen Imagination. Die Linienstrukturen schaffen Bildräume. Sie geben der Fläche, die sie besetzen, eine Tiefe, ebenso der Fläche, die sie nicht besetzen. Sie lassen oft große Bereiche der Bildfläche unberührt und rücken sie damit in den Blick. Sie geben dem „unbeschriebenen“ Raum eine Gestalt. Daraus entstehen Bilder mit deutlich unterscheidbarem Bildgeschehen. Nicht nur die Hintergrundfarbe, nicht nur die persönliche Handschrift erzeugen Individualität, sondern ebenso die imaginären Räume mit ihrem Assoziationsreichtum. Die Linienbewegungen wirken nicht nur durch sich, durch ihren Duktus und ihre Dramatik, sondern auch durch den Raum außerhalb ihrer selbst, den sie beeinflussen.
Head Lines # 1-21.7
2015
Shinzo Abe
Prime Minister
acrylic and silk screen
on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 2-04.8
2015
Barack Obama
US President
acrylic and silk screen
on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 3-17.7
2015
Angela Merkel
Federal Chancellor
acrylic and silk screen
on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 4-12.8
2015
François Hollande
President
acrylic and silk screen
on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 5-30.4
2015
Stephen Harper
Prime Minister
acrylic and silk screen
on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 6-11.1
2015
Matteo Renzi
Prime Minister
acrylic and silk screen
on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 7-09.10
2015
David Cameron
Prime Minister
acrylic and silk screen
on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 8-07.10
2015
Vladimir Putin
President
acrylic and silk screen
on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 10-14.6
2017
Donald Trump
President of the United States
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 9-08.1
2017
Kim Jong-un
Supreme Leader of North Korea
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 11-31.5
2017
Viktor Orban
Prime Minister of Hungary
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 13-27.8
2018
Sebastian Kurz
Chancellor of the Federal Republic of Austria
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 14-27.3
2018
Mariano Rajoy
Prime Minister of Spain
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 15-26.2
2018
Recep Tayyip Erdogan
President of Turkey
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 16-21.12
2018
Emmanuel Macron
President of France
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 17-01.10
2018
Theresa May
Prime Minister of the United Kingdom
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 18-28.7
2017
Alexis Tsipras
Prime Minister of Greece
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 19-25.12
2017
Justin Trudeau
Prime Minister of Canada
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 20-20.7
2018
Enrique Pena Nieto
President of Mexico
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 21-03.6
2017
Raul Castro
President of the Council of State of Cuba
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 12-28.7
2017
Hugo Chavez
President of Venezuela
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 22-01.3
2017
Dalia Grybauskaite
President of Lithuania
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 23-15.6
2017
Xi Jinping
President of the People’s Republic of China
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 24-17.9
2018
Narendra Modi
Prime Minister of India
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 25-12.11
2018
Hassan Rouhani
President of Iran
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 26-11.9
2018
Bashar al-Assad
President of Syria
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Head Lines # 27-26.9
2017
Petro Poroshenko
President of Ukraine
ink on canvas
47,24 x 31,5 x 1,77 in
(120 x 80 x 4,5 cm)
Norbert Lammert
Zeichen der Macht und Macht der Zeichen
Politik und Kunst sind zwei die Geschichte der Menschheit prägende Gestaltungsformen, die ebenso viel miteinander verbindet wie voneinander unterscheidet. Beide entfalten sich als Lebensäußerungen und Gestaltungsansprüche von Menschen, beide beziehen sich auf die Gesellschaft und setzen sich mit ihr auseinander, ihrem aktuellen Zustand wie ihren Möglichkeiten und Entwicklungsperspektiven. Dabei folgen sie aber einer jeweils grundverschiedenen Logik: Das Medium der Politik ist die Macht, das Medium der Kunst ist die Form. Auch wenn beide damit nicht hinreichend beschrieben sind, ist offensichtlich, dass politische Prozesse mit ästhetischen Maßstäben nicht zu messen sind, die wiederum für jedes Kunstwerk konstitutiv sind.
Die Behauptung, jede Kunst sei politisch, ist ebenso beliebig wie die gegenteilige Vermutung, sie genüge sich selbst, „l’art pour l’art“. Zweifellos gibt es Kunstwerke, die im Wortsinn politisch motiviert sind, und künstlerische Positionen, die dezidiert politische Inhalte transportieren. Sie finden sich insbesondere in der Literatur und im Theater, aber auch in der Musik und selbstverständlich auch und nicht zuletzt in der bildenden Kunst. Beispiele dafür finden wir weltweit in den öffentlichen Museen wie in Regierungsgebäuden, Staatskanzleien und Ministerien, zunehmend auch in Parlamenten – nicht selten als abschreckende Beispiele für die Instrumentalisierung der Kunst für politische Zwecke in Gestalt von dröhnender Propaganda, subtiler Persiflage, ideologischer Überhöhung, gezielter Diskriminierung oder demonstrativer Erniedrigung.
Der Bilderzyklus Head Lines von Joseph Carlson gehört zweifellos in die Kategorie politischer Kunst und unterscheidet sich offensichtlich von den genannten Verirrungen. Joseph Carlson veranschaulicht weder konkrete Ereignisse noch abstrakte Ideen. Er setzt sich – wie viele Künstler – mit Köpfen auseinander, die politisch Bedeutung haben oder hatten, aber nicht in der vertrauten Form von Herrscherporträts in mehr oder weniger wirklichkeits-naher Gestalt, sondern von Zeichen, die ebenso stilisiert wie authentisch sind: Unterschriften. Sein Stoff sind die Signaturen der Machthaber, der Entscheidungsträger, die mit ihrem Willen zugleich Staatsakte setzen und gesellschaftliche Entwicklungen befördern oder behindern.
Kunst handelt von Wahrnehmungen, Politik von Entscheidungen. Die Signaturen der Mächtigen sind nicht unbedingt mächtige Zeichen, ihre Wirkungsmacht ergibt sich nicht aus sich selbst, sondern aus ihrer Akzeptanz als gültige, beglaubigte Willensakte. Politische Entscheidungen drücken sich aus in kollektiven wie in individuellen Voten, in Gesetzen, Kommandos oder Befehlen. Ihr Anspruch auf Geltung manifestiert sich von der Antike bis in die digitale Neuzeit in der Regel durch einen sichtbaren Beleg: die Unterschrift.
Genau hier, bei der Dimension des Sichtbaren, setzt Joseph Carlson an. Er stützt sich allein auf das Visuelle, die konstante, vom jeweiligen Anlass, dem Kontext und der Tragweite unabhängige Sichtbarkeit. Die Head Lines sind nicht das, was sie scheinen; sie wirken auf den ersten Blick wie eine zeitgenössische Form der Kalligraphie und sind genau das nicht: Schönschrift. Für die Wirkung eines Schriftzeichens ist seine (schöne) Form völlig unerheblich, für die Schönheit einer künstlerischen Handschrift ist deren (politische) Wirkung geradezu irrelevant. Die Head Lines von Joseph Carlson haben ein starkes kalligraphisches Moment, sie bleiben abstinent gegenüber jeder auch nur angedeuteten Ausmalung von Anlass, Folgen und Auswirkungen. Sie zeigen nur das, was an diesen Signaturen sichtbar ist: ihre Handschrift, ihren Duktus, ihren Rhythmus. Durch Hervorhebung eines willkürlich, nicht politisch, sondern ästhetisch gewählten Ausschnitts reduziert Carlson die Unterschrift auf das reine Zeichen. Das Bild wird auf diese Weise unschuldiger als der Gegenstand. Die Head Lines sind weder Unterschriften noch Überschriften, sondern scheinbar harmlose Zeichen mächtiger Köpfe.
Unserer Fantasie ist bei der Betrachtung der Bilder keine Grenze gesetzt. Die Assoziationen sind ohne Kenntnis des Gegenstandes völlig anders als mit dem Wissen um die jeweilige Person und die Wahrnehmung ihrer Unterschriften als machtvolle Versionen unter vielen Tausend anderer Schriftzeichen. Wir wissen, was durch Unterschriften geschieht, was angeordnet oder veranlasst, verboten oder erlaubt werden kann, was erreicht oder versäumt oder vertagt wird, was geschaffen oder zerstört werden kann. In Signaturen spiegelt sich die Macht Einzelner. Sind Unterschriften deshalb meistens unleserlich? Kann man sich hinter der eigenen Unterschrift verstecken? Wirken handschriftliche Namenszüge zufällig rätselhaft, magisch, genialisch, wirr?
Wem gehört welche Unterschrift? Mit welchem Kopf verbindet sich welches Zeichen? Es ist eine ernüchternde Erfahrung, dass sich aus Signaturen nicht erkennen lässt, ob sie von Autokraten, Demokraten oder Despoten stammen. Joseph Carlsons Head Lines sind Kunstwerke, keine Dokumente. Man könnte sie als rein ästhetische Projektionen wahrnehmen und sie sind mit Blick auf konkrete Machthaber vielleicht auch nur so zu ertragen. Wir suchen in den Zeichen nach Merkmalen, die uns das Wesen der Unterzeichner offenbaren könnten, aber wir finden sie nicht. Der Betrachter ist fasziniert und erschrocken zugleich, fast wie der babylonische König Belsazar auf dem berühmten Gemälde von Rembrandt oder in Heinrich Heines Ballade: „Und sieh! Und sieh! An weißer Wand / da kam’s hervor wie Menschenhand… / Die Magier kamen, doch keiner verstand / zu deuten die Flammenschrift an der Wand.“
Das Bild ist nicht die Botschaft: Sie entsteht erst im Kopf des Betrachters, der die Zeichen der Macht zu erkennen und die Macht der Zeichen zu deuten vermag.
Pascal Dethurens
Sinnbilder des Willens
Was ist eine Signatur? Etwas Unverwechselbares, das jeder Einzelne besitzt, wie seinen Körper und vielleicht auch seinen Geist. Nichts ist allgemeiner als eine Signatur – und doch gibt es nichts Einzigartigeres, nichts hebt uns mehr voneinander ab. Wie der Stil dient auch die Signatur einzig und allein dazu, dass wir mit keinem anderen verwechselt werden können. Ich unterzeichne, also bin ich: Ich bin derjenige, der mit meinem Namen unterzeichnet. Das veranschaulicht der Maler, Grafiker und Fotograf Joseph Carlson in seiner Serie der Head Lines wie kein anderer, indem er die Signatur unserer Welt veranschaulicht. In über zwanzig Werken ruft Joseph Carlson also die Unterzeichner unserer Welt zusammen und macht das, wovon wir höchstens träumen: Er versammelt die Staatschefs unserer Zeit um ein großes gemeinsames Projekt. Eine komische Idee, bei der eine utopische Euphorie Hand in Hand geht mit dem Wissen, dass sie zum Scheitern verurteilt ist. Von Trump über Merkel und Macron bis Xi Jinping, aber auch von Shinzō Abe über Putin und Matteo Renzi bis Theresa May, die Welt drängt darauf, ihre Präsenz und zugleich ihre Macht unter Beweis zu stellen. Jeder von ihnen unterzeichnet im großen Buch der Mächtigen, jeder möchte mit seiner Signatur etwas anderes erreichen: einen Befehl erteilen, gemeinsame Sache machen, etwas zusichern.
Schauen wir sie an, diese Signaturen von Joseph Carlson auf intensiv farbigem Hintergrund – das Orange von Justin Trudeau, das Gelb von Hugo Chávez, das Rot von Erdoğan: Ein Charakter erscheint, ein Temperament wird erkennbar. Überall verdeutlichen diese Zeichen den Willen einer Frau, eines Mannes. Sie sind Sinnbilder des Willens: Schauen wir uns an, wie diese Signaturen vergrößert wurden, sie nehmen die ganze Seite ein, gehen voller Leidenschaft über den Raum hinaus, der ihnen zur Verfügung steht, und der ihnen nicht reicht: Die offizielle Bottom Line, die Fußzeile eines Briefs oder eines Vertrags, die hier die Dimensionen des Werks angenommen hat. Diese Signaturen preschen voran, breiten sich aus – man möchte fast schon sagen, sie thronen, wenn es denn der Platz auf der Seite zulässt. Sie sind wie Flaggen. Der Leib der Länder, die sich darin verkörpern. Daher die Farben, daher ihre übermäßige Bedeutung.
Und dennoch entzieht ihnen Joseph Carlson das Zentrum, er verschiebt sie. Unter diesen Signaturen werden wir nicht eine finden, die man vollständig erkennen kann, wie es bei uns der Fall ist, wenn wir ein Schriftstück unterschreiben. Von Trumps Signatur ist nur der untere Teil sichtbar – der obere ist abgeschnitten; von der Signatur Alexis Tsipras’ sieht man nur das Ende – hier fehlt der Anfang. Die von Kim Jong-un scheint von irgendwoher aufzutauchen, während die von Hassan Rouhani an allen Seiten abgeschnitten ist. Der Name ist immer „zu viel“, man muss mit ihm spielen. Denn der Name der Großen dieser Welt ist mehr als nur ein Familienname, er ist ein Bild und das Schicksal der Bilder ist heutzutage, den Rahmen zu sprengen – man beachte nur einmal ihren Verbreitungsgrad im Internet, ihre Größe auf den Bildschirmen unserer Heimkinos!
Man kann einen Namen – Ihren, meinen – begrenzen, ein Bild hingegen kennt diese Grenzen nicht: Man kann aus Joseph Carlsons Werk gleichzeitig Faszination für diejenigen herauslesen, die solche Namen tragen, und vielleicht auch eine geheime Beunruhigung über ihren ungeheuren Machthunger.
Denn hier triumphiert die Macht, gebieterisch, teils besorgnis-erregend: Schauen wir uns an, welch eine Energie die Signatur von Petro Poroschenko ausstrahlt, welch eine Bestimmtheit die von Xi Jinping aufweist oder welches Funkeln die von Viktor Orbán. Von derartigen Zeichen weicht man nicht ab. Wir benötigen also keinen Grafologen, um die Mysterien dieser Signaturen lesen und entschlüsseln zu können: Mysterien gibt es bei Joseph Carlson keine, denn auf der Bildfläche des Werks wird bereits alles gesagt. Aus gutem Grund: Ohne den Text, den sie genehmigen sollen, den Gesetzesentwurf, den sie billigen sollen, erklären diese Signaturen nichts für gültig, bestätigen nichts, sie sind sich selbst genug, da sie – wie alle Zeichen der Macht – reine Beteuerungen ihrer selbst sind.
Wer aber unterzeichnet ein Werk? Wer unterzeichnet seine Bilder, seine Fotos, außer dem Künstler, der sie geschaffen hat? Die Signatur von Joseph Carlson ist zunächst nicht zu sehen. Ein Rückzug des Künstlers, weit aus dem Bereich des Politischen hinaus? Eher eine Inszenierung, eine Zurschaustellung der Geschichte, unserer Geschichte, die ohne uns und unsere Signaturen auch auf die Signatur des Künstlers verzichtet. Joseph Carlson will uns anscheinend sagen, dass diese großen Namen die Namen von Personen sind, die uns anführen und die wir größtenteils gewählt haben. Ihre Größe erscheint in Buchstaben, die mehr als nur „große Buchstaben“ sind. Der Künstler nimmt diesen Signaturen ihren gewohnten Rahmen, färbt sie ein, so wie auch Andy Warhol seine Porträts der Staatschefs bunt färbte, er setzt sie in Bewegung und spielt mit ihnen. So ruft er die Freiheiten derjenigen, die etwas erschaffen, im Vergleich zu denjenigen, die herrschen, ins Gedächtnis. Die Signatur eines Künstlers ist in seinen Werken allgegenwärtig, er muss sie dem von ihm Erschaffenen nicht extra hinzufügen: eine wunderbare Lektion, gerade weil das Namens-zeichen von Joseph Carlson nicht ins Auge fällt. Es erscheint zurückgenommen auf der Außenseite des Keilrahmens.
Head Lines. Wir sehen Umrisse, jedoch keine Porträts. Wird unsere Welt kein Gesicht mehr haben? Wenn man ein Porträt von ihr machen würde, würde es so aussehen? Joseph Carlsons Galerie der Signaturen nimmt den Platz ein, den einst die Porträtgalerie innehatte. Was jedoch einst über allem stand, nämlich die Gesichter der Großen, ist nirgends mehr festgemacht, als hätte der übermäßige Platz, den sie in den Medien einnehmen, den Künstler davon befreit, sie noch einmal abzubilden. Jeder drückt die Gegenwart auf seine Weise aus: in Form von Bildern, einem Übermaß von Bildern, oder aber durch die Abwesenheit von Bildern, die Abwesenheit von Köpfen. Stattdessen hingegen durch das Zeichen ihrer Existenz. Ein Zeichen, das auf eine Weise fortbesteht, wie es nur Zeichen vermögen.
Barbara Hess
Zeichen der Zeit
Joseph Carlsons Werkgruppe der Head Lines beginnt 2015 mit einer weißen Fläche, auf der sich eine großzügige, gestisch-abstrakte Spur in roter Farbe ausbreitet. Die variierende Strichstärke lässt daran denken, dass hier Farbe mit einem Pinsel aufgetragen wurde. Auf den ersten Blick kann man ein solches Bild assoziieren mit charakteristischen Kunstrichtungen der Nachkriegsmoderne wie dem französischen Informel oder dem amerikanischen Abstrakten Expressionismus – Tendenzen der Malerei, die der documenta-Gründer Arnold Bode Ende der 1950er Jahre zur vermeintlich universellen „Weltsprache Abstraktion“ erklärte und die weithin als signature style der westlichen Welt gefeiert wurden.
Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass sich Carlsons Bild mit der Bezeichnung #1-21.9 – ebenso wie alle weiteren Arbeiten der bis heute fortlaufenden Serie – einer Reproduktionstechnik, dem Ink-Jet Fine Art Printing, verdankt. Die glatten Oberflächen der Leinwände zeigen keinerlei Anzeichen von Faktur. Sie wirken ähnlich flach wie die abstrakt-expressionistischen Pinselstrich-Motive in Roy Lichtensteins Serie der Brushstrokes, die der amerikanische Pop-Art-Künstler Mitte der 1960er Jahre einem Comic entnahm und in starker Vergrößerung reproduzierte. Und so sind auch Carlsons Head Lines Aneignungen von Handschriften – genauer gesagt, von Ausschnitten handschriftlicher Signaturen. Denn allen Werken der Serie ist gemeinsam, dass ihre gestischen Motive an mindestens einer von vier Seiten vom Bildrand angeschnitten sind. Der Künstler legt offen, wer die Autorinnen und Autoren der von ihm appropriierten Signaturen sind: Das erste Bild der Serie zeigt ein Detail der Signatur von Shinzo¯ Abe, seit 2012 Premierminister Japans, das zweite einen Ausschnitt aus der Unterschrift der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, einen fast comicartigen schwarzen Schnörkel auf gelbem Grund; das dritte einen Teil der Signatur des derzeitigen amerikanischen Präsidenten Donald Trump, die sich als rote Schraffur am oberen Bildrand vor dem dunkelblauen Grund abhebt.
Wenn man Carlsons konzeptuelle Head Lines einer Bildgattung zuordnen will, lassen sie sich in der Tradition der Herrscherbildnisse verorten. Tatsächlich ist dieser Bildtypus so alt wie die europäische Porträtmalerei selbst, wie der Kunsthistoriker Martin Warnke bemerkte: „Schon die frühesten überlieferten selbstständigen Bildnisse“ – die um 1360 entstandenen Porträts des österreichischen Fürsten Herzog Rudolfs IV. und des französischen Königs Jean le Bon – „sind Herrscherbildnisse.“(1) Dabei gilt anzumerken, dass es sich bei den Head Lines nicht um Auftragswerke, sondern um Werke handelt, die im eigenen Auftrag entstehen. Vor diesem Hintergrund kann man es als Ausdruck der Distanz zu den Porträtierten verstehen, dass Carlson für seinen Zyklus durchgängig das Format 120 × 80 × 4,5 cm, also ungefähr halbe Lebensgröße, wählt; einer Monumentalisierung der politischen Figuren arbeitet er nicht zu.
Während in den drei ersten Bildern des Zyklus ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen dem Farbschema eines Bildes und den Farben der jeweiligen Nationalflaggen besteht, wird dieses Prinzip im vierten Bild gebrochen: Die roten Markierungen der Signatur von Kim Jong-un, des „Obersten Führers“ der Demokratischen Volksrepublik Korea, bekannt als Nordkorea, stehen auf einem dunkelgrauen Fond. Diese und die folgenden Abweichungen verdeutlichen, dass Joseph Carlsons Bildzyklus – auch wenn er immer mit vorgefundenem Material arbeitet – breiten Raum für die Subjektivität des Künstlers lässt. Dies gilt zunächst für die Entscheidung, welche Politikerpersönlichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt in die Serie aufgenommen wird. Anlass sind jeweils konkrete Ereignisse und aktuelle Entwicklungen, die in Zusammenhang mit den Entscheidungen bekannter und mächtiger Politikerinnen und Politiker stehen; erst danach beginnt die Recherche nach einer Vorlage für die Signatur.(2) Auch bei den Fragen, welcher Ausschnitt einer Signatur ausgewählt und wo dieser auf der Bildoberfläche platziert wird, handelt es sich um künstlerische Setzungen. So geben die Schriftfragmente Anlass zu Mutmaßungen über den Charakter der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner, auch wenn die Grafologie aus wissenschaftlicher Sicht als untauglich zu gelten hat; man kann beispielsweise Ähnlichkeiten mit dem Peace-Symbol ebenso entdecken wie Andeutungen von Stacheldraht. Und auch angesichts der Farbwahl – ob sich diese nun an den Nationalfarben orientiert oder mehr oder weniger von diesen entfernt – stellt sich für das Publikum wie bei jedem Bildnis die Frage, wie der Künstler die von ihm Dargestellten sieht.
Bekanntheit erlangten die Head Lines, für konzeptuelle Kunst durchaus charakteristisch, zuerst im Rahmen eines Massenmediums und im Kontext eines politischen Großereignisses, dessen Beteiligte regelmäßig Schlagzeilen – headlines – machen. Am 12. April 2015 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung acht von Carlson ins Bild gesetzte Namenszüge. Sie gehörten den sieben damaligen Staats- und Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Japans, Kanadas, der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs, die wenige Wochen später am G-7-Gipfel im bayerischen Schloss Elmau teilnehmen sollten. Ergänzt wurde die Bildserie um die Signatur des damals wegen der Krim-Annexion ausgeschlossenen russischen Präsidenten; von 1998 bis zum 25. März 2014 hatte Russland der G 8 angehört. Die jährlichen Treffen der Gruppe der bedeutendsten Industrienationen der westlichen Welt – die interessanterweise auch Japan einschließt – finden seit Mitte der 1970er Jahre in wechselnden Konstellationen statt; sie sind informell und dienen der Beratung zu globalen Fragen in kleiner Runde. So geben Joseph Carlsons Head Lines Anlass, ebenso über die Reichweite wie die Grenzen der politischen Macht von Regierenden nachzudenken: Was ist eigentlich aus den unterzeichneten Vorhaben – etwa zur Klimapolitik und zur Energiewende, zum Abbau von Handelsschranken, zur Verhütung von Epidemien – geworden? Welche vielfältigen ökonomischen, politischen, technologischen Machtformen stehen der Macht der Unterzeichner entgegen? Welche Rolle spielt etwa die sprichwörtliche Macht des Faktischen?
Die Head Lines zeigen Macht nicht zuletzt als etwas Abstraktes –
die Unterschriften sind nicht lesbar –, und als immer partiell –
die Unterschriften sind nie vollständig, sondern immer nur in Ausschnitten reproduziert. So kann man Carlsons Head Lines auch als Zeichen einer Zeit verstehen, die von vielfältigen Krisen und Herausforderungen umgetrieben wird. Dazu gehören nicht zuletzt die Legitimationskrisen politscher und ökonomischer Macht – Carlson arbeitet mit Signaturen demokratisch gewählter Staatsoberhäupter und Regierungschefs, aber auch mit denen von Autokraten. Auf diese Weise wird man auch daran erinnert, dass demokratisch legitimierte und autokratische Machtformen ineinander übergehen können.
Nicht zuletzt gilt es, den Blick von der politischen, massenmedial kommunizierten Szene, auf die Carlsons Head Lines verweisen, noch einmal auf ihre Konzeption zu richten. Diese lässt sich in Analogie zu einem Projekt des französischen Literaturwissenschaftlers und Philosophen Roland Barthes betrachten. In seiner Beschäftigung mit Japan, die 1970 unter dem Titel „L’Empire des signes“ erschien, zielte er nicht auf ein objektives Bild oder ein Idealbild des Landes ab, sondern beschrieb es als das, „was Japan in ihm ausgelöst hat“.(3)„Ich kann“, behauptete Barthes „auch ohne jeden Anspruch, eine Realität darzustellen oder zu analysieren (gerade dies tut der westliche Diskurs mit Vorliebe), irgendwo in der Welt (dort) eine gewisse Anzahl von Zügen (ein Wort mit graphischem und sprachlichem Bezug) aufnehmen und aus diesen Zügen ganz nach Belieben ein System bilden.“ In ähnlicher Weise gibt Carlsons Verfahren der Auswahl von Signaturdetails und Farbkonstellationen einen Eindruck davon, was ein politisches Ereignis, ein Entscheidungsträger „in ihm ausgelöst hat“. Die Head Lines nehmen „eine gewisse Anzahl von Zügen (ein Wort mit graphischem und sprachlichem Bezug)“ auf und bilden daraus ein System, dessen potenzielle Lesarten ebenso im Fluss bleiben wie das politische Geschehen selbst.
(1) Siehe Martin Warnke, „Herrscherbildnis“, in: Handbuch der politischen Ikonographie. Bd. 1: Abdankung bis Huldigung, hg. von Uwe Fleckner, Martin Warnke und Hendrik Ziegler, 2., durchgesehene Auflage, München: C. H. Beck 2011, S. 481–490.
(2) Joseph Carlson an die Verf., 24.05.2018.
(3) Roland Barthes, Im Reich der Zeichen, aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 13.
Wolfgang Ullrich
Expressionistische Machtgesten
Seit dem Amtsantritt von Donald Trump ist die Unterschrift als Zeichen von Macht präsenter denn je geworden. Das Unterzeichnen von Gesetzen und Dekreten inszeniert er jedes Mal in großem Stil, versammelt dazu Regierungsmitglieder und für das jeweilige Thema repräsentative Bürger um seinen Schreibtisch, setzt in ihrer Anwesenheit seine Unterschrift unter das Dokument und hält es dann vor die Kamera. Er beglaubigt seine Signatur also nochmals durch eine Geste demonstrativen Bekennens. Seine Unterschrift dürfte damit aktuell die berühmteste der Welt sein. Die Signaturen der meisten anderen Spitzenpolitiker – und erst recht die der Mächtigen in Wirtschaft oder in sonstigen Bereichen – werden hingegen kaum einmal öffentlich, zumal es ohnehin nur bei besonders wichtigen, internationalen Abschlüssen üblich ist, Verträge in einer öffentlichen Zeremonie zu unterzeichnen.
Dass selbst und gerade Trump, der sich im Allgemeinen kaum um Konventionen und Polittraditionen schert, das Unterzeichnen von rechtsgültigen Papieren so sorgfältig zelebriert, zeugt aber auch davon, wie fest verankert die Idee des Signierens in der Kulturgeschichte ist. Man trifft darauf keineswegs nur in westlichen Kulturen; vielmehr erschien es überall, wo etwas mit Schrift fixiert wurde, als notwendig, ein Mittel zur Verfügung zu haben, um das Geschriebene nochmals eigens zu bekräftigen: um seine Geltung zu bestätigen oder um Urheber oder Verantwortliche kenntlich zu machen. Es braucht eine Beglaubigung, damit sich für Dritte der Charakter des Geschriebenen verbindlich einschätzen lässt. Für sich allein ist Geschriebenes nämlich zu deutungsoffen, zu schnell ablösbar von der ursprünglich damit verbundenen Intention. Oft waren es spezielle Stempel, oft auch eigene Zeichen oder Fingerabdrücke, mit denen ein schriftliches Dokument authentifiziert wurde. Inzwischen haben sich aber weltweit Unterschriften durchgesetzt, was nicht ohne Paradoxie ist, wird Schrift auf diese Weise doch wiederum nur mit Schrift abgesichert.
Dieser Paradoxie soll damit begegnet werden, dass Unterschriften sich von sonstiger Schrift möglichst klar unterscheiden. In einer Signatur wird idealerweise sowohl die Geste des Beglaubigens als auch die Willensbekundung der Person, die unterschreibt, eigens sichtbar. Deshalb wirkt eine Unterschrift oft besonders dynamisch: Je schneller und energischer sie vollzogen wird, umso eindrucksvoller kann sie den Geltungsanspruch des Unterschriebenen manifestieren. Und wenn sie zugleich ungewöhnlich – bestenfalls unverwechselbar – in der Ausführung der einzelnen Buchstaben ist, scheint man geradezu die Persönlichkeit des Unterschreibenden in all ihrer Individualität – in ihrem spezifischen Wollen – erkennen zu können. Unterschriften waren also bereits expressiv, lange bevor es den Expressionismus gab – und sie sind es bis heute.
Der doppelte Eigensinn von Signaturen ist auch das Thema der Bilder von Joseph Carlson. In mehreren Schritten arbeitet er ihn – ihren Expressionismus – noch stärker heraus. Dass er die Unterschriften von Präsidenten und Regierungschefs isoliert und zudem stark vergrößert, macht sie zu Gebilden von autonomer Kraft. Der gestische Habitus wird auf diese Weise zum performativen Akt gesteigert. Dass Carlson nur Teile einer Signatur auf ein Bild setzt, diese also über dessen Ränder hinausdrängt, lässt sie umso energischer – geradezu explosiv – wirken. Sie besetzt den kompletten Raum, wird aber auch unlesbar und damit zu einem Ereignis markanter, jeweils höchst individueller Linienführung. Dass Carlson schließlich mit einem einfarbigen Hintergrund einen Kontrast zur jeweiligen Farbe der Signatur herstellt, potenziert die Leuchtkraft, unterstreicht damit aber auch umso besser den Geltungsanspruch, der mit einer Unterschrift verbunden ist.
Lassen Carlsons Bilder die Idee des Signierens sinnlich erfahrbar werden, so zeigen sie, genau genommen, jedoch gar keine Unterschriften. Denn es gibt hier nichts, was unterschrieben wird. Aus allen Zusammenhängen herausgelöst, handelt es sich um Signaturen, die höchstens sich selbst beglaubigen – und die damit nochmals intensiviert werden. Aus den Unterschriften werden Überschriften, weshalb die Serie passenderweise auch den Titel „Head Lines“ trägt. Dieser macht nochmals bewusst, wie sehr eine Signatur prägend und eigentlich die Hauptsache ist.
Durch Freistellung zu verfremden und damit den Blick erkenntnis-stiftend zu verschieben, ist eine bewährte Praxis bildender Kunst. Man sähe Carlsons Zyklus daher gerne einmal zusammen mit einer Serie von Fotografien ausgestellt, die Taryn Simon 2015 angefertigt hat. Unter dem Titel „Paperwork and the Will of Capital“ hat sie Blumenbouquets fotografiert, die jeweils Gestecken nachgebildet wurden, mit denen die Räume geschmückt waren, in denen wichtige Vertragsunterzeichnungen stattfanden. Wie Carlson alles auf die Signaturen konzentriert, reduziert Simon das jeweilige Ereignis also auf den von ihr freigestellten Blumenschmuck. Sie hat dabei sowohl die Hintergründe der jeweiligen Vertragsunterzeichnung wie auch die genaue Zusammensetzung der Blumengestecke eruiert und dafür sogar die Hilfe eines Botanikers in Anspruch genommen. Letztlich hat sie nur sogenannte „unmögliche Bouquets“ fotografiert: aus Blumen zusammengesetzte, die unter natürlichen Bedingungen nicht zur gleichen Zeit am selben Ort blühen könnten.
Wo Simon das Nebensächliche – das bloß Dekorative – einer Machtinszenierung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, präpariert Carlson das Element heraus, das die Macht jeweils neu in Kraft setzt. Und während Simon Geschäfte und Verträge zum ästhetisch-künstlichen Ereignis stilisiert, bei dem die unmöglichen Bouquets auch als Machtgeste – als Überbietung der Natur – zu verstehen sind, gelingt es Carlson, die Ambivalenz eines Akts der Macht-ausübung sichtbar zu machen. Auf seinen Bildern wirken die Unterschriften, gerade in ihrem Leuchten, unheimlich und aggressiv; sie sind aber, in der Abstraktion der Schrift zu Linien, auch einfach schön.
Nicola Kuhn
Abstraktionen der Macht
Wie unterschreibt einer? Was sagt das aus über sie oder ihn, die Persönlichkeit? Eine ganze Wissenschaft lebt davon, die Grafologie. Bei Bewerbungen auf Vorstandsposten in der Industrie werden diese Experten zu Rate gezogen. Bei Politikern redet die große Öffentlichkeit mit, wenn ihre Signaturen unter Staatsverträgen, Handelsvereinbarungen oder nationalen Noten publikumswirksam gesetzt und dadurch für alle sichtbar geworden sind.
Wir ziehen unsere eigenen Rückschlüsse – etwa aus der zackigen Unterschrift von Donald Trump. Die eng gesetzten Buchstaben mit ihren steilen Ausschlägen nach unten und oben werden vom US-Präsidenten jedes Mal grimmig entschlossen in die Kameras gehalten, sobald er ein weiteres Dekret unterschrieben hat, das seinen Veränderungswillen manifestiert. Mit den Frequenzausschlägen kreischender Dämonen wurde seine Signatur verglichen, den EKG-Aufzeichnungen von Kammerflimmern. Analogien zum Typus des Unterschreibenden sind beliebt. Nachdem die Koalitionsvereinbarungen der neuen deutschen Bundesregierung nach monatelangen Verhandlungen endlich unterschrieben waren, wurden die darunter gesetzten Signaturen der Parteivorsitzenden prompt ebenfalls öffentlich analysiert.
Sowohl die persönliche Aura wie der machtvolle Akt, sowohl die Momenthaftigkeit des innerhalb von Sekunden gesetzten Namenszuges wie die für Dauerhaftigkeit stehende Bedeutung der Politikersignatur unter einer offiziellen Verlautbarung – all das spielt auch bei Joseph Carlson herein. Nur rückt er sie in seinen Bildern aus der Achse. Seine „Head Lines“ zeigen nur einen Ausschnitt der geschwungenen oder im Stakkato auf das Papier gebrachten Paraphen internationaler Staatsmänner und -frauen. Mal schiebt Carlson sie mehr nach rechts, dann nach links, mal sind sie mehr nach oben, dann nach unten verrückt. Dazu vergrößert der Künstler den Namenszug ins Riesenhafte, setzt ihn signalhaft in starker Farbigkeit vom Grund ab.
Joseph Carlson ist ein begnadeter Grafikdesigner, das offenbart sich auf den ersten Blick. Dem Betrachter offenbart sich nicht sogleich, von wem all diese dekorativen Schlängel und Krakel stammen. Ihre Spannung erhalten die „Head Lines“ durch das Wissen, dass sich dahinter die britische Premierministerin, der US-amerikanische Präsident oder auch der österreichische Kanzler verbergen. Wie beim türkischen Präsidenten oder dem griechischen Premierminister scheinen manche Unterschriften sogar gedreht worden zu sein, so tollkühn wirkt der Verlauf der Lineatur.
Welcher Buchstabe aus der Signatur Angelas Merkels ist da eigentlich abgebildet? Dieser wellig geschwungene Schnörkel kann eigentlich kaum ein A darstellen. Oder: Hat Raúl Castro, der kubanische Präsident, den ersten Buchstaben seines Vornamens womöglich spiegelverkehrt geschrieben? Carlsons Bilderserie symbolisiert zwar das geballte Potenzial von Politikermacht. Und doch sind es nur Zeichen, die sich auch als abstrakte Malerei lesen lassen.
Die Geschichte der Signatur reicht bis ins 15. Jahrhundert, als sich der Handel zu globalisieren begann und Kaufleute über große Distanzen hinweg Verträge miteinander schließen mussten. Schon sehr viel früher haben Herrscher ihre Pakte miteinander schriftlich besiegelt. Die Unterschrift war schon immer ein Zeichen der Bestätigung, des Einvernehmens. Daher stammt auch der Begriff Unterschrift, in dem enthalten ist, dass der Unterschreibende den vollen Text gelesen und seinen Namen erst nach der Lektüre daruntergesetzt hat.
Der eigenhändig geschriebene Name unter einem Vertrag besitzt auch heute noch die gleiche Rechtsgültigkeit, selbst Jahrhunderte später. Sie beglaubigt eine multilaterale Vereinbarung. Auch im Zeitalter der elektronischen Medien hat sich dies nicht geändert. Daher kommt dem Moment des Vertragsschlusses – insbesondere zwischen Staaten, besiegelt durch die eigenhändige Unterschrift von Politikern – noch immer diese Bedeutung zu. Joseph Carlson aber entlockt den Politiker-Unterschriften darüber hinaus einen ästhetischen Mehrwert und verlegt sie in die Sphäre des
Künstlerischen.
Man könnte darin eine Form der Überhöhung erkennen. Oder feststellen: Die Regierungskunst kommt hier zu sich selbst.
Jean-Yves Bainier
Die Macht der Kunst
Die künstlerische Herangehensweise von Joseph Carlson entwickelt sich seit vielen Jahren in sich fortsetzenden Reihen immer weiter: In Form von Fotografien, Malerei, Skulpturen und dreidimensionalen Strukturen, von Inszenierungen gefundener Objekte, von Oberflächen und einzelnen Fragmenten, die er mit seiner sensiblen und kreativen Arbeit offenbart.
Mit seiner neuen Serie Head Lines weicht Carlson kein bisschen von dieser Linie ab: Er sammelt die Signaturen verschiedener Machthaber der Welt und vergrößert und isoliert nach Belieben einen Teil davon, um ihn anschließend auf einer einfarbigen Fläche darzustellen. Per Definition im Wörterbuch handelt es sich bei einer Signatur um den Namen einer Person, die einen Vertrag oder eine Verpflichtung authentifiziert. In der Kunst authentifiziert die Signatur des Künstlers ein Bild. Angebracht auf dem Untergrund des Werkes, dem sie Gültigkeit verleiht, ist die Signatur ein einmaliges Autogramm. Oft ist sie gut lesbar und als Kalligrafie oder einfach nur als Initialen auf dem Werk zu finden. Paradoxerweise ist sie anonym, wenn sie das Zeichen eines Steinmetzes darstellt, und es gibt sogar Signaturen, die weiter zurückliegen als die Erfindung der Schrift, wenn sie sich z. B. in Form eines Handabdrucks auf der Wand einer jungsteinzeitlichen Höhle finden.
Die Serie Head Lines von Joseph Carlson entsteht aus den Signaturen der großen Machthaber, die er Teil eines Kunstprojekts werden lässt, in dem das Subjekt – die bruchstückhafte, ausgeschnittene Signatur, die ihrem eigentlichen Kontext entnommen wurde – das Objekt einer bildlichen Darstellung wird. Während der Name des Erschaffers eines Bildes in der Signatur meistens nahezu vollkommen lesbar ist, ist die Signatur am Ende eines Schriftstückes wiederum, mit wenigen Ausnahmen, vollkommen unleserlich. Als eine Art grafisches Ready made ändert die Signatur bei Joseph Carlson ihren Status, ihre Dimension und ihren Charakter. Es wird lediglich ein einziges Element teilweise beibehalten und vergrößert, gezogen, eingefärbt, verändert. Die in ihrer ursprünglichen Form ohnehin schon kaum erkennbaren Unterschriften von Donald Trump, Angela Merkel oder Emmanuel Macron werden so lediglich als eine Ansammlung von Linien dargestellt, ein klarer und dynamischer Duktus, der durch seine Form, seine Farbe und seine grafische Präzision auf der einfarbigen Fläche des Bildes einen neuen Raum definiert. Der Schriftzug und die Farben (die der Fläche und die der darauf abgebildeten Linien) sind die zwei Bestandteile einer scheinbar abstrakten Bildkomposition. Doch die „Neutralität“ des Hintergrunds, unabhängig von seiner Farbe, ermöglicht es der Linie, einen Raum einzuschließen und zu begrenzen. Rein formal betrachtet sind die Head Lines eine eher harmonische Zusammenstellung. Man könnte sie auch als gestische Abstraktion bezeichnen, die frei von Lyrismus ist und sich an der starken Geschmeidigkeit der mit einer abstrakten Geometrie verbunden Linien misst, wobei diese Geometrie von der Unveränderlichkeit des einfarbigen Hintergrunds bestimmt wird.
Eine Signatur wird durch eine schnelle und spontane, aber gleichzeitig beherrschte Geste zu einer Art Kalligrafie. Joseph Carlsons Gebrauch dieser Signatur entfernt sie von der emotionalen Spontaneität und bevorzugt einen strengen Duktus, durch den eine Verbindung zwischen der Linie und dem Hintergrund hergestellt, und die bemerkenswerte Ausgeglichenheit der Verbindung, die aus der Bewegung der farbigen Linie auf dem Hintergrund hervorgeht, bestätigt wird. Es handelt sich dabei um die Interpretation eines einzigartigen Zeichens, das allein seinem Autor gehört, eines Zeichens mit einer sehr persönlichen Note, das einzig und allein den Unterzeichnenden identifiziert.
Jedes Bild kann als Porträt betrachtet werden, als auf paradoxe Weise abstrakte Gestalt, bei der das Zeichen, das durch den Willen des Künstlers verändert wurde, eine repräsentative „Vorstellung“ der auf diese Weise dargestellten Person erzeugt. Es ist also offensichtlich, dass die Head Lines sich nicht auf ein Manifest beschränken, bei dem der Anteil der Kunst auf ihre einfachste Ausdrucksweise begrenzt ist. Denn die transgressive Verwendung der Signatur besteht tatsächlich auch in ihrer Artifizierung (so der in der Soziologie verwendete Begriff), d. h., dass aus etwas, bei dem es sich nicht um Kunst handelt – einer Unterschrift –, Kunst gemacht wird. So erhält ein besonderes, jedoch nicht-künstlerisches Zeichen durch den Willen des Künstlers eine neue Bedeutung. Durch diese Entscheidung verleiht Joseph Carlson der Serie ihre unbestreitbar politische Dimension. Während das Zeichen zur Authentifizierung, das am Ende eines Dokuments angebracht wird, diesem grundsätzlich eine gewisse Unantastbarkeit verleiht, lässt die gewollte Zweckentfremdung durch Carlson Zweifel an dem Wert des besagten Zeichens aufkommen und zeigt zugleich ein privateres Bild seines Autors. Es ist kein Geheimnis, dass im Laufe der Geschichte immer wieder Verträge, die ordnungsgemäß unterzeichnet und gegengezeichnet wurden, missachtet, gestrichen, verletzt oder sogar für ungültig erklärt wurden, und zwar einzig und allein durch den Willen eines Machthabers, der die Gültigkeit der Verpflichtung bestreitet.
Die Unbeständigkeit und Vergänglichkeit offizieller Dokumenten, unabhängig davon, ob ihre Wirkung politischer, wirtschaftlicher, ökologischer oder kultureller Art ist, ruft auch die Serie Head Lines in Erinnerung, indem sie in beliebiger Reihenfolge die gekürzten Versionen der Signaturen von Shinzo Abe, Kim Jong-Un, Barack Obama zeigt. Die jüngsten Ereignisse in der internationalen Politikszene haben diese Unbeständigkeit bereits unter Beweis gestellt. Die vom derzeitigen Präsidenten der Vereinigten Staaten bevorzugte spektakuläre Inszenierung seiner Signatur zeigt nicht nur die Gültigkeitserklärung eines Schriftstücks, sondern auch eine Bestätigung seiner Person. Indem Joseph Carlson Trumps Unterschrift an der oberen Kante des Bildes platziert, bildet er nur den unteren Teil ab. Und stellt er damit nicht ihre Legitimität infrage? Im unteren Teil einer anderen Komposition ist ein lebhaftes und schräg verlaufendes Fragment der Signatur von Kim Jong-Un zu sehen. Es wirkt wie eine symmetrische und zugleich widersprüchliche Antwort auf die Signatur seines Rivalen und unwahrscheinlichen neuen Partners. Und spiegelt das „Porträt“ von Angela Merkel, das auf so etwas wie ein umgekehrtes Fragezeichen reduziert ist, nicht einen besonders aktuellen Aspekt ihrer politischen Situation wider? Jede einzelne der vom Künstler gewählten Unterschriften beleuchtet ein Abbild der Persönlichkeit und wahrscheinlich der Erlebnisse des Unterzeichners, die sich auch jenseits einer einfachen grafologischen Interpretation in Form ihrer Ausrichtung auf der Seite, ihrer Farbe und natürlich in dem gewählten Element des „Namenszugs“ zeigt, so wie der Autor sie in den Raum und somit infrage stellt. Denn in Joseph Carlsons aussagekräftiger Serie geht es in der Tat um die Vertrauenswürdigkeit und Glaubhaftigkeit derer, die an der Macht sind oder waren.
Der kritische Blick eines Künstlers stellt jedoch in keiner Weise die künstlerische Dimension seines Projektes infrage. Head Lines ist eine Serie von Bildern, deren plastische Qualität und Ausdruckskraft eine bewusste Absicht und eine Kritik an den Regierungen unserer Welt sichtbar werden lassen. Die ästhetische Dimension des Werkes ist weit davon entfernt, die politische Absicht zu verbergen, sondern wertet sie vielmehr auf. Die Einbeziehung von Schrift als Bestandteil des Bildes – mit Ausnahme der Signatur des Künstlers – ist im 20. Jahrhundert bei Picasso und Picabia, bei Duchamp und Magritte sowie in der Konzeptkunst von Marcel Broodthaers, Ed Ruscha und vielen anderen zu finden. Doch bei Joseph Carlson lässt die Einbeziehung der Schrift die Möglichkeit des Lesens, der Entzifferung einzelner Wörter, außen vor. Die „Schrift-Signatur“ übersetzt auf grafische Weise eine Art symbolische Darstellung der Macht, die insofern noch viel deutlicher wird, als dass sie auf eine bruchstückhafte Umsetzung reduziert ist.
Jedes einzelne Element von Head Lines stellt eine kunstvolle Komposition, eine bemerkenswerte Beherrschung der Farbharmonie zur Schau. Die überarbeiteten Züge der Signaturen harmonieren auf kunstvolle Weise mit der Behandlung des Hintergrunds, dessen einfarbige Perfektion auf die farbige Lebhaftigkeit der Linien und Schwünge, der Punkte und der gewählten Zeichen eingeht. Ohne dass jemals die Nachricht durch den ästhetischen Wert des Bildes, den der Künstler unmissverständlich vermittelt, abgeschwächt wird, bringt er den Betrachter dazu, die Seiten einer Geschichte zu betrachten, die tief in unserer Zeit verankert ist.
Die Kunst Joseph Carlsons ist in jeder Hinsicht zeitgenössisch und verzichtet deswegen nicht auf einen gerechtfertigten formalen Reiz, der mit der Perfektion der Ausführung verbunden ist. Die strikte Komposition, die kunstvolle Harmonie der Farben, die ausgeglichene Aufteilung der Räume, all dies bestätigt unumstritten die Arbeit eines Malers. Genau diese treue Einhaltung der Kriterien eines Kunstwerkes verleiht der Arbeit eines zweifellos engagierten Künstlers durch die Verbindung der politischen Absicht mit der künstlerischen Ausdrucksweise ihre ganze Kraft. Ein Engagement gegenüber der Macht und ihrer Darstellung in einer Welt, in der das Bild der Menschen, die sie verkörpern, überall und immer wieder vorkommt und so meist ihre wahre Position und die wirkliche Grundlage ihrer politischen Botschaft verschleiert. Indem er ihren Signaturen die Macht nimmt, relativiert er ebenfalls die Macht ihrer Autoren. Joseph Carlson liefert kein militantes Programm ab, bei dem dieses Engagement als ästhetischer Trick abgetan würde. Es ist vielmehr die Bestätigung des ästhetischen Werts seines Projekts, das für dessen Wirksamkeit sorgt.
Ohne auf einen absolut kreativen und inspirierenden Ansatz zu verzichten, lädt Joseph Carlson uns dazu ein, seinen kritischen Blick auf unsere Zeit zu teilen, in der die Kunst und die Macht der Kunst ein unentbehrliches Mittel bleiben, indem sie – sicherlich besser als Worte – die Realität unserer Welt enthüllen.