Der Griff nach dem Himmel
dium steht für das Gegenteil, für die völlige Antithese dessen, was das Kunstprojekt dieses Namens beinhaltet. Denn dium, das lateinische Wort für Himmelsraum, nehmen wir wahr, wenn wir den Blick von unserer Erdkruste abwenden und ins Offene richten. Das Offene ist das All und zugleich das Nichts, in jedem Fall das Amorphe. Mit dium bezeichnet Joseph Carlson jedoch das Projekt einer Form-Genese, einer Gestalt-Bildung. Ein Widerspruch tut sich auf.
Dieser Widerspruch erhält seinen Sinn, indem der Himmelsraum Urimpuls, Fundus und – obwohl dieses Bild ganz und gar unangemessen ist – „Plattform” für die Form-Entstehung ist. dium bezeichnet also einen Beginn.
Wie Formen entstehen, erklärt uns die Gestalt-Psychologie. Sie beschreibt aber nur den Status einer Kultur-Leistung und blendet alles aus, was an Evolution zu dieser Entwicklungsstufe geführt hat. Für unsere Netzhaut ist die sichtbare Umgebung ein formloses Chaos. Und unsere Netzhaut reagiert kaum anders als die unserer Vorfahren vor vielen Jahrtausenden. Erst der interpretierende Verstand hat im Lauf der Zeit gelernt, aus dem Allgemeinen Einzelnes zu entnehmen – aus dem Chaos Formen. Der Mensch war zu diesem Lernen gezwungen, um zu überleben. Reines Sehen genügte nicht. Er musste auch erkennen: eine Gefahr, die ihn bedrohte, einen Feind, der ihn verfolgte, oder eine Frucht, die ihn ernährte.
Die Kulturleistung des erkennenden Sehens ist ein Abstraktionsvorgang. Wir trennen einen Teil vom Ganzen, eine Form vom Kontinuum der Formlosigkeit. Wir verfestigen diese Form und teilen sie unseres gleichen mit: durch Sprache oder durch Zeichnung. Leonardo da Vinci sagte, die Kontur gehöre weder dem Körper, noch dem umgebendem Raum an. Er meinte damit, dass es in der Natur keine Konturen gibt. Wir schaffen sie erst, indem wir der Natur etwas entnehmen, das wir mit einer Linie umgrenzen.
Joseph Carlson entnimmt seine Formen dem Himmelsraum, also dem Bereich der Wirklichkeit, der besonders formlos erscheint. Ganz gleich, ob wir eine Wolkendecke oder die Milchstraße sehen, wir finden dort nur deshalb Formen, weil wir danach suchen. Wir assozieren und wir interpretieren. Doch der Himmelsraum ist nur das eine der konstituierenden Elemente für die Form-Bildung von dium. Ein weiterer Bereich der Wirklichkeit kommt hinzu, in diesem Fall eine Welt von äußerst starker Geformtheit, eine planmäßig gebaute Struktur.
Diese Struktur ist homogen und vielfältig zugleich. Kaum eine Metropole der Welt weist eine solche Art der Bebauung auf wie das im 19. Jahrhundert durch Baron Haussmann flächendeckend geplante und neu erbaute Paris. Ein besonderes Charakteristikum sind die bekannten Innenhöfe, die für dium als Formgeber aktiv werden.
Ein solcher umschlossener Innenhof öffnet sich nur nach einer Seite. Nur in den Himmel. So korrespondiert die fest gefügte Enge mit der unendlichen Weite. Die Verbindung zwischen diesen extremen Polen – das Schlüsselloch – ist eine klar definierte Form. Der Himmel wird aus der Perspektive des Innenhofs zur Form. Immer zu einer anderen Form. Damit hat jeder der vielen Pariser Innenhöfe seinen eigenen Himmel. Hier gibt es nun nicht mehr den einen Himmel über Paris, sondern deren viele. Die Stadt projiziert ihren historischen Grundriss in die Höhe und teilt damit den Himmel in viele Portionen. Doch das macht ihn nicht klein. Jeder Innenhof gibt ihm eine eigene neue Größe – die Größe der Gestalt, der Form.
Erster Schritt auf dem Weg zur Form ist die Fotografie, das Medium des Sammelns. Joseph Carlsons fotografische Bilder werden bestimmt durch die immer gleiche Neutralität des grauen Himmels im Zentrum und durch die vertrauten und sich nur wenig unterscheidenden Pariser Hausfassaden ringsum. Was die Fotografien unterscheidet, ist die Kontur des Himmelsausschnitts, ein identitätsstiftendes Merkmal, das aus der Individualität des Innenhofs erwächst. Die ungewöhnliche Perspektive von unten nach oben gibt den Innenhöfen ihre Aura als Himmelsspender und schafft eine Bildserie von stummer aber ausdrucksvoller Gleichgestimmtheit.
Doch es geht Joseph Carlson nicht um die Identität des anonymen Innenhofs, sondern mehr um die Eigenständigkeit der abgeleiteten Form. Das fotografische Bild – bei aller Bedeutung der Serien-Ästhetik – ist vor allem das Material zu einem visuellen Produkt. Die Vielfalt der Innenhöfe dient im Grunde nur der Vielfalt abstrakter Himmelsformen.
Es entsteht ein Formen-Inventar, das auf eigenes Recht zum Gegenstand der Betrachtung wird. So vielfältig diese Formen eingesetzt und inszeniert werden, sie besitzen über ihre grafische Beschaffenheit und ihre geometrische Definition hinaus eine weitere, im Semantischen angesiedelte Dimension. Sie enthalten Vergangenheit. Sie tragen eine bildimmanente Erinnerung in sich. Denn es sind keine willkürlich gesetzten, sondern „geerntete” Formen.
Der Griff nach der Form
Joseph Carlson lässt Formen entstehen aus der Fotografie, aus einem klar definierten Motiv, und aus einer klar definierten Perspektive. Pariser Innenhöfe, von unten nach oben gesehen, stanzen eine jeweils eigene Form aus dem Himmel aus. Dieses Prinzip wird deutlich durch seine vielfache Wiederholung.
Eine fotografische Bildserie mit zahlreichen Motiven zeigt die Antithese des immer Gleichen und doch jedes Mal Anderen. Immer gleich ist das Sujet, das aus vielen Motiven ein einziges macht: ein Stück Himmel umkränzt von den Dachkonturen eines Innenhofs. Immer gleich ist damit die Logik der Form. Immer gleich ist auch der Maßstab durch die konstante Brennweite des Objektivs. Immer gleich ist schließlich die homogene Helligkeit des Himmels. Jedes Mal anders ist dagegen die Individualität des Innenhofs und damit auch die Einmaligkeit der umschriebenen Form.
Die Form besteht aus dem immer gleichmäßig hellen Himmel ohne jede Differenzierung. Dieser Himmel ist der durchgängige immaterielle Hintergrund aller Fotografien und damit – zwar in unterschiedlicher Form – ein gemeinsamer „Stoff”. Das Immaterielle des weißen Himmels steht im Kontrast zur spürbaren Materialität der hellen Wände. Dieses Zweierlei an trübem Weiß spielt der Künstler gegeneinander aus. Damit gibt er der „Himmels-Form” eine spirituelle Tiefe.
Die Homogenität des Sujets und der Perspektive betont die unterschiedlichen Gesichter der Innenhöfe. Und sie betont vor allem die Vielfalt der generierten Form. Diese Vielfalt ist die Grundlage für eine weitere Bildserie. Denn als parallele Entsprechung zu den 60 Fotografien gibt es die 60 Formen als jeweils isoliertes Sujet. Foto-Reihe und Formen-Reihe entsprechen sich und korrespondieren miteinander. Sie sind im buchstäblichen Sinn deckungsgleich und stellen nur unterschiedliche Aufbereitungen und damit verschiedene Modi des jeweils gleichen Motivs dar.
Durch diese Parallelität wird in der Fotografie die Form fokussiert. Schon die Fotografie allein lenkt den Blick auf die zentrale Form. Wenn Joseph Carlson jedoch die Fotografie durch die zusätzliche Darstellung der isolierten Form ergänzt, erscheint die bewusste Wahrnehmung der Form unausweichlich. Mit der isoliert dargestellten Form interpretiert der Künstler die Fotografie. Er gibt ihr ein Thema und einen Sinn.
Das hat Folgen für beide Arten der Darstellung. Einerseits kippt die Fotografie in ihrem Zentrum aus dem Genre des Fotografischen in das des abstrakten Bildes. Dem Foto scheint ein Stück Grafik eingeschrieben, ohne dass der Künstler die Fotografie verändert oder manipuliert. Nichts ist „eingeklinkt”. Alles ist schon da. Andererseits bekommt die isoliert dargestellte Form eine Dimension, die das rein grafische Genre an sich nicht besitzt. Das Wissen um die Entstehung der Form beeinflusst die Wahrnehmung. So erweist sich die Vielfalt abstrakter Formen in Wahrheit als die Vielfalt Pariser Innenhöfe und als Vielfalt des Lebens. Die Form bekommt eine Geschichte. Sie gewinnt eine epische Dimension. Ein Wesensaustausch gleich einem Temperaturaustausch findet statt: In der Fotografie wird die Form ein Stück abstrakter, in der Grafik ein Stück konkreter. In beidem, in der Fotografie und in der Grafik sehen wir mehr, als vorhanden ist.
So gibt Joseph Carlson seinem Werk in der zweifachen Serie von Bildwerken einen Sinn und eine Aussage.
Der Griff nach dem Bild
Mit seinem Konzept dium schafft Joseph Carlson ein Formen-Inventar von hoher Ausdruckskraft. Der Kontext der Entstehungsgeschichte gibt den Formen eine reiche Semantik. In diesem Sinn sind die zahlreichen Formen ein künstlerisches Resultat.
Doch damit schöpft der Künstler das Potential noch nicht aus. Nicht nur als Resultat haben die Formen Bedeutung, sondern auch als Material. So ist das Konzept nach vorne offen – als Quelle für neue Resultate.
Joseph Carlson nutzt die Formen als bildnerisches Material, indem er sie in eine aktive Beziehung zur Fläche setzt. Solange er die Form nur als solche präsentiert, gibt die Trägerfläche der Form zwar einen Ort, ein „Podest” und eine Aura. Doch die Form allein ist das Bild. Der Schritt von der Trägerfläche zur Bildfläche bedeutet, dass die imaginäre Energie der Fläche aktiviert wird. Die Fläche tritt als Bildelement zur Form hinzu. Sie bildet eine Gegenform und nimmt den Dialog mit der ursprünglichen Form auf. Eine Komposition aus zwei Elementen entsteht: Form und Fläche gleichbedeutend mit Form und Form – Positivform und Negativform. Der semantische, genauer der epische Gehalt der Form, ihr Rückbezug auf den Himmelsraum, teilt sich der gesamten Komposition mit. Denn die Kontur, die im Bild Form und Gegenform beschreibt, ist in der „Mater” der Fotografie die Trennungslinie zwischen Haus und Himmel. Form und Gegenform inszenieren das Spiel von Fülle und Leere. Was die Fassaden in der Fotografie offen lassen, wird als Leerraum wahrgenommen. Das ist die Lesart der realen Naturerscheinung. Die Lesart der abstrakten Form ist eine andere. Denn die zentrale Form bringt durch ihr Gewicht imaginäre Fülle ein. Damit arbeitet die Bildkomposition. Sie schöpft aus dem epischen Hintergrund und setzt Form und Gegenform, Fülle und Leere, Positiv und Negativ als bildnerische Akteure ein.
Joseph Carlson setzt die Formen auch als bildnerisches Material ein, indem er über die aktive Beziehung zwischen Form und Fläche hinausgeht. Er nutzt dabei nicht allein das Spannungsverhältnis zwischen Fläche und Form, sondern ebenso das zwischen Form und Form. Formen treten in der Mehrzahl ins Bild und führen zur triadischen Relation Form/Form/Fläche.
Die Einzelform verliert ihren Status der Alleinstellung und die Ausschließlichkeit ihres Kontrahenten. Denn Kontrahent war bisher nur die Form generierende Fotografie. Jetzt wird die Form – auch – zu ihrem eigenen Kontrahenten. Sie wird außerdem zu einem von vielen möglichen Zeichen innerhalb eines formalen Alphabets, sie wird zum Modul. Die Korrespondenz der Formen setzt Energien frei, die der formalen Abstraktion zugehören. Damit wird die Form um einiges abstrakter, um einiges weniger mimetisch, naturalistisch, semantisch. Ihre epische Dimension bleibt zwar erhalten, äußert sich aber weniger vernehmlich.
Das ist noch nicht mit einem Verlust gleichzusetzen. Im Gegenteil. Es erweitert den Spannungsbogen. Vor allem dann, wenn die Lösungen sich nicht in einer vordergründig formalen Ästhetik erschöpfen, sondern Ausdruckswerte schaffen: Wenn die Form eine Physiognomie bekommt. Wenn die Form den Betrachter ansieht. Wenn die Form über ihren planimetrischen Spannungsreichtum hinaus lebendig wird und somit zum beinahe personalisierten Partner des Betrachters. Der Künstler gewinnt die Physiognomie der Form allein aus ihrer kompositorischen Behandlung, das heißt aus einer sensiblen und fruchtbaren Kombination von Formen. Allein daraus schon lässt er Ausdruck entstehen. Dieser Ausdruck wird angereichert und belebt – wie von weit her – durch das Wissen um die Entstehung der Form, durch den Rückbezug auf die fotografierte Situation. Ausdruck verbindet sich mit Ausdruck. Der neu geschaffene formale Ausdruck mit dem immanenten semantischen Ausdruck. Zunächst haben diese Faktoren wenig miteinander zu tun. Sie potenzieren sich jedoch, sobald sie zusammenfinden. Sie geben der Bildlösung eine imaginäre und zugleich semantische Tiefe.
Dieses Sowohl-als-auch, diese Ambivalenz des Ausdrucks, spannt Joseph Carlson noch weiter, wenn er zwei Formen in einen dramatischen Dualismus treten lässt – als Formen in der Fläche oder als dreidimensionalen Körper, als monochromes Weiß oder als Schwarz-Weiß-Polarität. Darüber hinaus nutzt er die Vielzahl und Vielfalt der Formen als bildnerischen Faktor. Die Individualität der Form tritt dann zurück. Die Einzelform steht nur noch für den „interformalen” Reichtum. Doch von diesem Reichtum lebt das Bild. Es ist ein pulsierendes Leben, in dem sich die Existenz vielfältiger Himmelsformen fortsetzt. Ob Einzelkonturen sich zu langen formreichen Linienwegen zusammen schließen, oder ob Formreihungen zu stark bewegten Bändern werden, mit der zunehmenden Entfernung vom Ursprungsbild schwächt der Künstler keineswegs die Verbindung zur Wirklichkeit, sondern er verstärkt so den epischen Atem.
Burghard Müller-Dannhausen
„Seid gegrüßt, meine Freunde!“ sagte er jedesmal, indem er auf uns zukam. „Sie haben Glück, daß Sie hier so ausgiebig leben können; ich muß morgen wieder nach Paris in meinen Winkel. „Oh“, fügte er dann mit einem sanft ironischen, resignierten, etwas zerstreuten Lächeln hinzu, das ihm eigen war, „gewiß gibt es in meinem Haus alle möglichen unnützen Dinge. Es fehlt nur das, was notwendig ist: ein großes Stück freier Himmel wie hier. Versuchen Sie immer ein Stück Himmel über Ihrem Leben zu haben, mein Junge!“, fügt er zu mir gewandt hinzu. „Sie haben eine anmutige Seele, von seltener Beschaffenheit, eine Künstlernatur; lassen Sie sie nicht darben an dem, was sie braucht.“
Marcel Proust
„Die Suche nach der verlorenen Zeit“