Grenzlinien des Himmels
Dium – Himmelsraum, Weltall – lautet der Titel einer Serie von Fotografien und Leinwänden, mit denen Joseph Carlson die Unermesslichkeit des Universums in eine Form zwängt, ihr Grenzen auferlegt und Endlichkeit verordnet. Unschwer erkennt der Betrachter in diesen Fotografien die Stadt Paris und ihre Hinterhöfe. Es handelt sich um eben jene Pariser Architektur, die seit dem 18. Jahrhundert mit einer rapide wachsenden Zahl von Häuserblocks das Antlitz der Stadt veränderte und über die der Dichter Louis-Sébastien Mercier in seinen Tableaux de Paris schrieb, man habe zwar „mehrere Male versucht, [ihrem] Umfang Grenzen zu setzen, aber die Gebäude haben die Grenzlinien immer wieder gebrochen, die Gärten sind verschwunden und die Felder weichen Tag für Tag vor dem Hammer und dem Winkelmass zurück.“
Die helle Sandsteinarchitektur der meist engen Innenhöfe mit ihren charakteristischen schmiedeeisernen Garde-corps oder den moderneren, schlichteren Bauten, die Carlson aus der Perspektive von Kafkas in einen Käfer verwandelten Gregor Samsa gleichsam auf dem Rücken auslotet, bildet jedoch nur eine Art Sichtkanal, der unseren Blick in schwindelerregende Höhen treibt. In ihrer menschenleeren, beengenden und unpersönlichen Gestalt erinnern diese Hausmauern mit ihren unzähligen Fenstern auch an Filmszenen von Metropolen der 1920er Jahre. Durch die Deklination des stets ähnlichen, aber doch jeweils anderen Motivs bei Wahrung der immer gleichen Perspektive entsteht eine nach Befreiung und Entgrenzung strebende Bewegung, die im Zentrum der Komposition jedoch geradewegs ins Leere einer durch die strenge Linie konturierten unregelmäßigen Fläche zu laufen scheint. Die fluchtenden Geraden der städtischen Architektur ziehen beständig Grenzlinien, die sich jeweils voneinander unterscheiden und einander doch ähneln. Man denkt bei diesem Phänomen an Walter Benjamin, der im Passagenwerk notierte, wie „nur scheinbar gleichförmig“ die Stadt sei. Im Mittelpunkt steht aber bei Carlson der graue, in nuancen- und farbloses Licht getauchte Pariser Himmel. Vom Himmelsraum oder Weltall, von dem im Titel der Serie die Rede ist, finden sich hier lediglich Spuren begrenzter Unendlichkeit, die einen Prozess der Verfremdung in Gang setzen.
Wir befinden uns im städtischen Raum der Moderne. Unwillkürlich erinnert man sich an die Parisdarstellungen des 19. Jahrhunderts. Doch nichts an Carlsons Himmel vermag die von Vögeln, qualmenden Schornsteinen und treibenden Wolken bewohnten Lüfte der Radierungen Charles Meryons oder gar die nuancenreichen Wolkenstudien impressionistischer Gemälde in Erinnerung zu rufen. Aus Carlsons Fotografien spricht vielmehr sein Bemühen um Formalisierung. Sein Himmel ist ein stimmungsloser, fast neutraler, unausgefüllter Raum im Mittelpunkt. Um ihn herum wird Paris, literarische und künstlerische „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ (Walter Benjamin), zu einem unverrückbaren Rahmen für etwas eigentlich Formloses und Unbegrenztes. In seinem Passagenwerk hat Benjamin die „topographischen Umrisse“ der Balzac’schen Parisromane und Erzählungen beschrieben, durch die der Schriftsteller „die mythische Verfassung seiner Welt“ beschrieben und gesichert habe. Viertel, Straßen, Orte sind bei Balzac dergestalt, dass in ihnen das Charakteristische der Zeit, ihr Wandel und ihre Bedeutung festgehalten werden. „Glanz und Elend“ (Balzac) der Stadt und ihrer Bewohner bildeten auch das Faszinosum für den Flaneur des 19. Jahrhunderts. Dieser wandelt durch die brodelnde, treibende Stadt, fühlt sich von ihr angeregt und findet sein Glück dort, wo die Ziellosigkeit am Größten ist: „Flanieren ist eine Wissenschaft, ist die Feinschmeckerei des Auges. […] flanieren ist leben,“ heißt es in Balzacs Physiologie der Ehe.
Carlsons Blick hingegen führt uns vom pulsierenden Großstadtleben weg. Die Stadt liefert lediglich den Ausschnitt, das Fenster zu einem leeren Bildraum, der alsbald einen ästhetischen Eigenwert gewinnt: Die Himmelsform wird in einem weiteren Arbeitsprozess ausgeschnitten und auf die Leinwand übertragen. Die auf diese Weise gefundene Form bleibt zwar eine leere Form, eine Leerstelle; sie dokumentiert aber gleichzeitig das Entstehen einer Form und tritt mit dem Ausgangsmotiv in eine dialektische Wechselbeziehung. Man könnte diesen Vorgang als These und Antithese bezeichnen, als Veranschaulichung einer positiven und einer negativen Form, als Reflexion über das Reale und das Abstrakte. Es ist auch eine Auseinandersetzung mit der Entstehung von Bild-Formen, eine Absage an die erfundene Form und die Veranschaulichung der Überzeugung, dass es nicht darum geht, neue Formen hervorzubringen, sondern Formen abzunehmen, zu erkennen und als solche wahrzunehmen. Carlsons Arbeiten sind so betrachtet auch als Metaphern für die Bedingtheit der Wahrnehmung und des Wahrgenommenen zu verstehen. Dabei geht es weniger um das Studium geradezu banaler Vorgaben und ihre malerische Adaption, sondern vielmehr um die Transformation eines Mediums in ein anderes und um das erst im Übertragungsprozess entstehende Wechselspiel von Fotografie und Malerei.
So ist Carlsons Zugang zur Malerei kein direkter, er artikuliert sich über das Medium der Fotografie. Dabei scheint Paris als Motiv der Fotografie pointiert gewählt, da die Stadt (neben England) als Ursprungsort der Fotografie betrachtet werden darf. Als die ersten Daguerreotypisten in den späten 1830er Jahren die Stadt, meist von den Dächern aus betrachtet, einzufangen begannen, wurde Paris nicht nur zum beliebtesten Motiv der Fotografen. Die neue Technik entband die Künstler fortan auch von ihrer weitreichend etablierten Reproduktionspflicht und leitete einen Prozess der Selbstbefragung und der künstlerischen Innovation ein. Künstler wie Charles Meryon erkannten in der Paris-Radierung fortan individuelle Möglichkeiten, deren genuin künstlerisches Potential sie ausloteten und dabei der Stadt wiederum zu ihrem eigenen unverwechselbaren Bild verhalfen. Carlson bindet nun die Fotografie selbst wieder an die Malerei zurück.
Ebenso wenig wie sein Zugang zur Malerei ist auch Carlssons Zugang zur Form kein direkter, denn er artikuliert sich über die Ableitung eines Motivs, des Himmelsausschnitts, und übersetzt ihn auf der Leinwand in die abstrakte, reine Form. Besonders die deckende, monochrome Acrylfarbe, die Carlson verwendet, unterstreicht das Fixierte und nicht mehr Veränderbare der geschaffenen Form. Sie erscheint als minimalistische Leerstelle, die sich fortan selbst genügt. Die Form kann als Einzelwerk oder Diptychon in Erscheinung treten; sie kann aber auch ihrerseits wieder Teil einer Gesamtkomposition werden. Dabei gleichen die Formen in der großzügigen Rauminstallation, wo sie auf einer Höhe in regelmäßigen Abständen hoch über dem Betrachter an der Wand hängen, den Notationen einer Partitur. Kleinere und größere Formen, zackige und eher lineare, komplizierte und schlichte, verleihen der Serie Rhythmus und Variation. Auf diese Weise entsteht eine Art von Carlson selbst geschaffenes Universum zweiter Ordnung. Die Begrenztheit der ausgeschnittenen Form wird in die Unbegrenztheit ihrer möglichen Deklinationen überführt. Geben in der oberen Reihe die Himmelsansichten wie Fenster den Blick in neue Welten frei, übersetzen die Formen der darunterliegenden Reihe eine andere Vorstellung von Unendlichkeit. Diese Formen führen die These des reinen Minimalismus vor, der durch die Antithese der Himmelsfenster, der motivischen Komposition dialektisch gebrochen wird.
Und gerade in dieser Dialektik liegt die Spannung von Carlsons Arbeiten. Sein Vorgehen lässt den Betrachter verschiedene semantische und hermeneutische Ebenen erfassen und lädt zur Reflexion über Abstraktionsprozesse ein. Diese werden allerdings erst im Zusammenspiel der Medien ansichtig – wenn man sich auf den Zusammenhang zwischen dem fotografischen Ausgangsmotiv einerseits und der Loslösung der Form andererseits als ein wechselseitiges Zusammenspiel von Vorbild und Nachbild einlässt. Erst dann beginnen auch Carlsons Formschöpfungen zu sprechen und einen verweisenden Sinn jenseits ihrer Schablonenhaftigkeit zu entfalten; sie oszillieren zwischen Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen. Carlsons Serie Dium ist ein paradoxes Spiel, das die Unendlichkeit der realen wie der abstrakten Formen immer wieder neu in den Blick nimmt und dem Betrachter vielschichtig vor Augen hält.
Louis-Sébastien Mercier, Paris, ein Gemälde, übers. von Bernhard Georg Walch, 8 Bde, Leipzig 1783/84, Bd.4, S. 1108.